Wer sich auf den Weg macht, um von der Ritterstraße über die Gartenstraße zum Goethegymnasium zu gelangen, der wird beim Blick nach oben unwillkürlich mit einem leuchtend ultramarinblauen Farbstreifen konfrontiert, der sich, von Halbsäulen, Fenstern und Wandflächen unterbrochen, unterhalb der Dachkante eines imposanten Wohnblocks entlang zieht. Hat man sich da bei der jüngsten Renovierung an den blau-monochromen Bildern von Yves Klein orientiert? Und der Wandputz in dunklem Grün - ist das tatsächlich die originale Farbigkeit? Beim Weitergehen erschließt sich die vollständige Dimension der viergeschossigen Anlage, die sich von der Gartenstraße über die Renckstraße zur August-Dürr-Straße erstreckt, eine dreiflüglige Blockrandbebauung, die einen geschlossenen Innenhof umrahmt.
Nicht nur die Farben fallen auf, sondern auch die drei unterschiedlichen Straßenfronten, die von der blauen Attikazone wie mit einem Band zusammengehalten werden: eine differenzierte Fassadengestaltung mit Natursteinverkleidung und Putz, mit vor- und zurückspringenden Bauteilen, teils symmetrisch, teils asymmetrisch angeordnet. Auffällig sind auch die mehr oder weniger stark betonten Eingänge zu den sieben Treppenhäusern. Es sind eindrucksvolle, in die Tiefe führende steinerne Portale mit Pilastern, eingestellten Säulen und horizontalem Gebälk, die an ägyptische Grab- und Tempelanlagen erinnern. Beispielsweise lässt das hervorgehobene mittlere Portal an der August-Dürr-Straße mit seinem horizontalen Abschluss und den flankierenden Pilastern an eine ägyptische Tempelschrankenwand denken. Darauf verweist auch die Bekrönung der Pilaster mit einem sehr frei stilisierten Uräenfries, der in Ägypten oft als apotropäisches Schutzsymbol über Grab- und Tempeleingänge wacht: eine Reihe von sich aufbäumenden Kobraschlangen, Sinnbild für die Uräusschlange, die mit ihrem Feueratem das Böse vertreiben soll.
Der monumentalste Eingang befindet sich an der Renckstraße, die Mitte der dreiflügligen Wohnanlage wie einen Hauptzugang akzentuierend. Vor einem zurückspringenden, mit einem Giebel bekrönten Mittelrisalit, der wiederum seitlich von horizontalen Wandflächen überschnitten wird, erhebt sich eine trapezförmige steinerne Wandfläche, die an ägyptische Pylone erinnert, wie beispielsweise am Amuntempel in Karnak. Darin eingeschnitten sind Fenster und die Eingangstür, die seitlich von zwei Dreiviertelsäulen gerahmt wird, ägyptischen Palmblattsäulen nachempfunden.
Der Architekt dieses ungewöhnlichen Ensembles ist Hans Zippelius, geboren 1873 in Franken, zeitweise ein Mitarbeiter von Hermann Billing in Karlsruhe. Nach einer Tätigkeit als freier Architekt, als Lehrer an der Kunstgewerbeschule Karlsruhe und Bau-amtmann am Städtischen Wohnungsamt wurde er 1923 Geschäftsführer der städtischen Wohnungsbaugesellschaft "Wohnungsbau für Industrie und Handel GmbH", seit 1928 unter dem Namen "Volkswohnung" bekannt. 1926 reichte Zippelius den Bauauftrag für die 56 Vierzimmerwohnungen ein, im Sommer 1927 waren die ersten vier Häuser an der August-Dürr- und Renckstraße fertiggestellt, 1928, nach einem Planwechsel, die restlichen Häuser an der Gartenstraße. Deren Fassade und Grundriss sollten ursprünglich wie an der parallelen August-Dürr-Straße gestaltet werden, mit den Wohnräumen zur Straße und den Küchen und Sanitärräumen zur backsteinsichtigen Innenhofseite. Vermutlich aufgrund der damals aktuellen Forderung nach mehr Licht, Luft und Sonne für den Wohnungsbau verlegte Zippelius die Wohnräume der nach Norden ausgerichteten Gartenstraßenfront zum Hof hin auf die Südseite - eine moderne Grundrissdisposition, die sich mehr an Himmelsrichtungen denn an tradierten Grundrissschemata orientiert.
Aber wie kommt es, dass Zippelius ausgerechnet ägyptisierende Formen für die Fassadengestaltung verwendet? Man könnte meinen, er habe sich von der damaligen Ägyptenmode, die gerade einmal wieder nach der Entdeckung des Tutanchamun-Grabes 1922 durch Howard Carter en vogue war, anstecken lassen. Doch Zippelius' Zugang zu Ägypten war direkter, unvermittelter, beruhte auf eigener Anschauung und intensivem Erleben. Zwischen 1905 und 1910 hatte er als Stipendiat weite Teile des Mittelmeerraums bereist und an deutschen Ausgrabungen in Kleinasien als Archäologe teilgenommen. Im Februar 1907 schrieb er von einem Ägyptenbesuch aus Luxor an seine spätere Frau, die Malerin Dora Horn: "Im Niltal blüht und grünt alles [...]. Heute abend gehe ich beim Mondschein zum großen Amuntempel in Karnak. [...) Ich schätze mich glücklich, daß es mir vergönnt war, dies Wunderland bereisen zu können, und ich bin sicher, dass die empfangenen Eindrücke auf mein späteres Schaffen einwirken werden."
Auch in der Farbwahl wirken hier ägyptische Reminiszenzen nach: ein intensives Blau und Grün gehören zum ägyptischen Farbenkanon, wobei das Blau den himmlisch-göttlichen Bereich symbolisiert, während das Grün für Erde und Fruchtbarkeit steht. Dank der Volkswohnung, die den denkmalgeschützten Gebäudekomplex 2010 vorbildlich sanierte und die ursprüngliche Farbigkeit rekon-struierte, erstrahlt nun wieder das blaue Band in luftiger Höhe.
Susanne Stephan-Kabierske, Karlsruhe
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